Nadja Küchenmeister: wurzeln (2020)
Es stimmt, was im Klappentext von Nadja Küchenmeisters drittem Gedichtband „Im Glasberg“ (2020) steht: dass ihre Gedichte schonungslos und zart zugleich sind

Was ist Heimat, wenn der Mensch, der sie vor allen anderen zu verkörpern schien, nicht mehr da ist? Was ist eine Heimkehr, die von der größten Ernüchterung begleitet wird: der Stille eines leeren Raumes? Ein Raum, der vor kurzem noch bewohnt war und nun schweigt, angefüllt mit Dingen „wie auf dem Mond zurückgelassene Objekte“ (so einst Sibylla Vričić Hausmann über Gedichte von Elke Erb). Ein Raum, der von der nichtmenschlichen Natur zurückerobert wird, mit einer Vorhut von Tauben, die auf einem Kühlschrank nisten. Im Glasberg ist eine Rückkehr an einen Ort, der kalt geworden ist. Und doch herrscht ein märchenhafter Ton – als hätte etwas von der violetten Farbe des Einbands mit seinen Sternen abgefärbt: In den Winkeln eines morsch gewordenen Lebens, im „verlegene[n] Schweigen aus Holz“ und zwischen abgeblätterter Tapete schimmert vielleicht ein poetischer Rückhalt.
Zwischen Sanftheit und Schmutz – Taubenfedern
Der Wäscheständer vor dem Fenster war eine zu schwache Bewehrung: Die Tauben haben ihren Weg in die Wohnung gefunden. Schädling und Liebes- oder Friedenssymbol zugleich, antwortet die Taube auf ein inneres Flimmern und wird so zur ambivalenten Chiffre. Vor einer Woche wurde noch Zeitung gelesen. Jetzt ist die Zeitung Teil eines derben Vanitas-Stilllebens, das falsche Zähne auf einem Unterteller und Kartoffeln umfasst.
Alterungsnoten: Neben den Kartoffeln „altern die Gewürze“. Der Band Im Glasberg ist voller solcher bisweilen zarter, herber und süßlicher Alterungsnoten. Es ist, als sähe man alte Bilder durch einen Vintage-Filter. Es beginnt eine Spurensuche im Sinne Walter Benjamins – der Versuch, letzte Handlungen zu verstehen. Ein Tatort. Eine offene Schublade wird zum Raum für eine weitere Assemblage, die in ihrer Addition mit einer narrativen Verkettung konkurriert: „wonach hast du gesucht, schere oder kapselschneider/ eduschokaffee, noch nicht angebrochen“. Scharfe Dinge und Kaffee mit seinen erdigen Tönen; daneben ist es ein Mantel, der als schwacher Abdruck der Person und ihrer Handlungen fungiert, so wie sich bei Walter Benjamin Spuren von Handlungen dem Samt einprägen. Ein Leben wird hier anhand seiner Dinge und Räume evoziert. Wie bereits Harald Hartung hervorhob, steht Küchenmeister damit in der Tradition des literarischen Interieurs.
ohne geschichte kann ich nicht nach hause gehen
Vielleicht ist dies der entscheidende Satz und zugleich der Grund, den Band in einen märchenhaften Umschlag zu hüllen. Und doch wagen sich die Gedichte weit aus diesem narrativen Schutz heraus, erkunden – wie mit einem Sauerstoffgerät – ein Vakuum, in dem Handlung sich in Dinge übersetzt und auflöst. Das letzte Bild: Ein schwarzer Kabelsalat, den es zu entwirren gilt. Dieser Knoten, der auf seltsame Weise mit der Magengrube kommuniziert, wird zugleich mit Momenten von Unendlichkeit angereichert: Er hat keinen Anfang und kein Ende. Gerade in diesem Gewirr verbirgt sich vielleicht eine Art Konsolation: dunkle Wurzeln, die in etwas ganz anderes hineinwachsen. Ein Geheimnis. Eine ‚andere‘ Heimat, die ihren Ort vielleicht vor allem in der Poesie hat.
Heidelberg, im Februar 2025
Sascha Rothbart, TP C04

Im Text verwendete Quellen:
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2020, S. 53
Sibylla Vričić Hausmann: Elke Erbs Gedichtverdacht als Alterswerk, in: lyrikkritik.de, 06.03.2020, URL: https://www.lyrikkritik.de/pechakucha/sibylla-vricic-hausmann-i/ [20.02.2025]
Harald Hartung: Die Launen der Poesie. Deutsche und internationale Lyrik seit 1980. Göttingen 2014