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U2: A Sort of Homecoming (1984)

Texte von Gedichten oder Liedern können uns helfen, die persönliche Situation zu interpretieren. Sie existieren, um auf uns einzuwirken – nicht damit wir herausfinden, was sie ‚genau‘ bedeuten.

A Sort of Homecoming – eine Art Heimkehr – ist der Opening Track des 1984er-Albums The Unforgettable Fire der irischen Band U2. Der LP-Titel verweist auf eine Kunstausstellung von Überlebenden der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, die die Band in Chicago im Jahr zuvor besucht hatte. Visuell präsentieren sich U2 auf den Coverfotos von Anton Corbijn in einem mystisch-düsteren Setting vor den Ruinen von Moydum bzw. Carrigogunnel Castle. In musikalischer Hinsicht zeigt das von Brian Eno und Daniel Lanois produzierte Album eine Abkehr von den Post Punk-Einflüssen der frühen LPs hin zu einem atmosphärisch reicheren sowie orchestrierten Sound. Die Texte greifen politische Aspekte direkt auf – allein zwei Lieder sind dem Bürgerrechtler Martin Luther King gewidmet. Die Lyrics lassen bereits die Hinwendung zu stärker amerikanisch geprägten Themen erkennen – eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt mit dem international gefeierten Nachfolger The Joshua Tree finden sollte. Auf diesem 1987er-Album kreist die Mehrzahl der Lieder um die verzweifelte Suche nach einer Heimat bzw. einem festen Platz in der Gesellschaft, ohne dass diese/r gefunden werden kann.

Allgegenwärtige Sehnsucht nach Heimat

Das Gefühl der Sehnsucht, das sich bereits beim ersten Abspielen von A Sort of Homecoming unweigerlich einstellt, findet Unterstützung durch die Lyrics, die in der Lage zu sein scheinen, bei jedem erneuten Hören weitere Bedeutungsschichten freizugeben. Überraschenderweise kommt das Lied selbst ohne konkrete zeitliche oder räumliche Bezugspunkte aus. Und auch die Personen bleiben namenlos. Das Setting des Songs bildet eine dystopisch anmutende Winterlandschaft, von der ungeklärt bleibt, ob es sich bei dieser um die Folgen eines gewaltsamen Konfliktes oder einer Katastrophe handelt. Das durchgehende Leitmotiv ist der Verlust der Heimat, gepaart mit der Hoffnung auf Rück- bzw. Heimkehr und dem Glauben, dass diese sehr bald bevorsteht („tonight“). 

Im Gegensatz zu Sunday, Bloody Sunday vom 1983er War-Album, das die „Troubles“, den Bürgerkrieg in Nordirland, adressiert, zeichnet sich A Sort of Homecoming – nicht zuletzt wegen des überzeitlichen Motivs der Heimat-Sehnsucht – durch eine beinahe extreme Deutungsoffenheit aus: Auf den ersten Blick thematisiert der Text die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki sowie den Wunsch traumatisierter Überlebender nach Rückkehr und baldiger Wiedergeburt ihrer Stadt – verbunden mit dem stillen Eingeständnis, dass diese Rückkehr wohl mehr Wunschvorstellung bleiben als Wirklichkeit werden wird und die Heimat auch nicht mehr dieselbe wie in der Erinnerung sein kann. Bestenfalls ist also eine Art Heimkehr möglich und es bleibt offen, ob eine Rückkehr unter den beschriebenen Vorzeichen überhaupt versöhnende Elemente („Time to heal, ‚desire‘ time“) enthalten kann. 

Neben dem Topos der Kriegsrückkehr, der leicht auf andere Konflikte übertragbar und damit in vielerlei Hinsicht bzw. über (alle) Grenzen hinweg anschlussfähig ist, lässt sich Heimkehr auch als spirituelle Erneuerung, als eine Rückkehr zu Gott deuten – nicht zuletzt, da religiös konnotierte Verweise vielerorts auf den frühen U2-Alben auszumachen sind. Der Text wurde unter anderem auch als sinnbildliche Rückkehr vom Krieg, das heißt dem Vorgänger-Album gleichen Titels, gedeutet oder als spezielle Art der Heimkehr der tourenden Band zu ihren Fans – jeden Tag in einer anderen Stadt – aufgefasst. Alles Lesarten, die mit der generellen Offenheit des Heimatbegriffs, nicht nur in der deutschen Sprache, in Einklang zu bringen wären. An solcherart Deutung schließt die Überlegung an, die besungene Heimkehr bzw. den Wunsch in die Heimat zurückzukehren, als ein Heimkommen im Sinne eines zu sich selbst Kommens zu lesen. 

Bono liest und interpretiert Paul Celan

Bono hat in einem Interview den Einfluss der Gedichte Paul Celans, sowohl für sein Songwriting (im Sinne eines poetischen Ansatzes) als auch für den Titel und den Text von A Sort of Homecoming, angedeutet. Insbesondere Celans Dankesrede bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1960, veröffentlicht als Der Meridian, übte eine Faszination auf ihn aus. In Celans Verständnis verbindet der Meridian Geistes- und Schicksalsverwandte, er führt zu Begegnungen und er bedingt Sprache. Ihm korrespondieren aber weder ein fester Ort noch eine konkrete Heimat, in die man zurückkehren könnte. Celan spricht – sein poetisches Konzept aufzeigend – von Gedichten als „Um-Wege, Umwege von dir zu dir“ und betrachtet diese als „ein Sich-vorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst ... Eine Art Heimkehr.“ Übertragen auf die Rolle Bonos als Songwriter einer Band die (be-)ständig unterwegs ist, stellt der poetische Akt des Textens also eine Art Heimkehr zu den eigenen Ursprüngen und damit zu sich selbst dar. 

Ein weiteres lyrisches Zeugnis Celans, das Gedicht Heimkehr, das im Band Sprachgitter 1959 erstmals abgedruckt wurde, kann ebenfalls als Verweis dienen. Auch hier taucht das Motiv der eisigen Schneelandschaft – einer von Celan vielfach genutzten poetischen Chiffre – auf, allein gezeichnet durch die endlose „Schlittenspur des Verlornen“. Unter dem Schnee und damit temporär unsichtbar befinden sich die unerreichbaren Toten bzw. Ermordeten, für die keine Möglichkeit einer Heimkehr mehr besteht. Einzig durch die Sprache des Gedichts werden sie, wie „vom Eiswind herübergeweht“, wieder präsent. Jedem hölzernen Pflock auf einem Grab entspricht so, „heimgeholt in sein Heute, ein ins Stumme entglittenes Ich.“ Auch diese Zeilen beschreiben eine Art Heimkehr – wenn auch keine, die heutigen Hörer:innen U2s sehr naheliegen dürfte. Sie lässt sich aber dennoch in den Lyrics aufspüren. Und vielleicht liegt gerade in dieser Deutungsoffenheit das wahre Geheimnis von A Sort of Homecoming

 

Heidelberg im Dezember 2024
Cord Arendes, TP C01

Das Bild zeigt den vollständigen Liedtext des U2-Songs A Sort of Homecoming

U2: A Sort of Homecoming

Im Text verwendete Quellen:

U2: The Unforgettable Fire (Original LP), Island Records 1984
Celan, Paul: Der Meridian [1960]. In: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. I. Abt. Lyrik und Prosa. Bd. 15.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 33–51
Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Georg-Büchner-Preis 1960. Dankrede Paul Celan (https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/…)
Celan, Paul: Heimkehr [1959], in: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. I. Abt. Lyrik und Prosa. Bd. 5.1, Frankfurt am Main 2002, S. 20